Trauma – Reaktionen mitfühlend verstehen

Trauma ist nicht gleich Traumatisierung:
Traumatisch wirken Ereignisse (erst) dann, wenn sich ein Mensch in einer oder wiederholten Ohnmachtssituation befunden hat und diese danach nicht verarbeiten konnte.
Unfälle, Verluste, Gewalterfahrungen usw. führen nicht zwangsläufig zu Traumafolge’störungen‘ oder besser formuliert zu „traumatischen Reaktionen“.
Wenn entsprechende Schutzfaktoren vorhanden sind, bleiben sie „prägende Lebenserfahrungen“.
Schutzfaktoren sind nach den 4 Säulen von Gert Kaluza:
  • Fürsorge: bedürfniserfüllende Bezugspersonen
  • Sozialkontakte: Sicheres Umfeld
  • Selbstwirksamkeit: Kontrollerfahrungen, Eigenmacht
  • Sinn: sich eingebunden fühlen/wissen/erleben in ein großes Ganzes.
Schwächende Faktoren nach einem erfolgten Trauma sind nach Verena König folgende:
  • Isolation, Einsamkeit
  • fehlende Selbstwirksamkeit
  • kein sicheres Umfeld
  • kollektivtraumatisierende Kultur
Wenn ein Kind bspw. häusliche Gewalt erlebt hat und sich dabei weder wehren, noch schreien, noch später mit jemandem darüber reden, es betrauern, wüten oder ausdrücken konnte, dann ist es „ohne Macht“, also „ohnmächtig“ geblieben. Es konnte in der Situation und auch danach nichts „machen“. (Machen = Macht).
Was geschieht bei Traumareaktionen?
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit.
Denn in Wahrheit konnte das Kind schon etwas „machen“.
Es  – bzw. sein Gehirn – konnte die Erlebnisse zerstückeln und diese bruchstückhaften Erinnerungen so abspeichern, dass immer nur einzelne Szenen oder Empfindungen ins Bewusstsein oder Erleben rücken. Das gesamte Erlebte aber nicht.
In Wahrheit konnte das Kind sich von seinen Emotionen und Bedürfnissen abspalten, um vor überfordernden Emotionen geschützt zu sein.
Das Kind konnte überleben, weil es sich von diesen Extremsituationen in der Kindheit emotional distanziert hat.
Ausserdem hat sich das Kind Verhaltensmuster angeeignet, mit denen es die eigene Existenz sicherte.
Hut ab vor dem, was das Kind – sein Gehirn – alles machen konnte!
Beispiel: 
Ein alkoholisierter Vater schlägt sein Kind.
Das Kind wählt als Überlebensstrategie, gegenüber seinem Vater vorsichtig und höchst angepasst zu sein, damit dieser es nicht wieder schlägt. Ausserdem spürt es schon von weitem, ob Alkohol im Spiel ist, versteckt sich, wird ganz starr, atmet flach, stellt sich schlafend.
Die Traumareaktion war somit eine äusserst hilfreiche Bewältigungs- und Überlebensstrategie.
Und sie war eine erfolgreiche! und somit mächtige! Bewältigungsstrategie!
Man höre und staune: die Traumareaktion resultiert aus erlebter psychisch/geistiger/sozialer Ohnmacht, unser Körper aber rettet uns! Unser Gehirn ist zur Stelle und kümmert sich darum, alles zu „schrettern“, damit es bewältigbar bleibt… für jetzt und auch für später.
Ist das nicht sensationell?
Ich habe grosses Mitgefühl mit meinen Traumaprogrammen und denen meiner Klient:innen.
Der Nachteil ist, dass es im späteren Leben Ereignisse gibt, die als Trigger diese Traumareaktionen auslösen.
Zurück zum genannten Beispiel:
Das Kind mit dem alkoholkranken Vater trifft später auf einen Mann, der auch ab und an mal über seinen Durst trinkt.
Die mittlerweile erwachsene Frau erstarrt jedesmal, wenn er alkoholisiert nach Hause kommt. Sie atmet flach, verhält sich angepasst und bleibt stumm.
Das kleine Fragment „Alkohol“ im Gehirn der Frau wird aktiviert und damit alle daran gekoppelten Schutzprogramme.
Das Gehirn der Frau „verwechselt“ den Partner mit dem Vater. Die Frau verhält sich wie eine Tochter, nicht wie eine Partnerin.
Jetzt beginnt die Möglichkeit das Trauma anders zu heilen, als durch Abspaltungen.
Anders zu bewältigen, als bisher, bedeutet, zu würdigen, wie wir Trauma bisher bewältigt haben!
Das mitfühlende Würdigen, Erkennen, Bedanken und Bestaunen der bisherigen Traumabewältogungsstrategien kann alleine bereits heilsam, versöhnlich wirken.
Von da an und auf einer sicheren Basis wagen traumatisierte Menschen schließlich sachte neue kleine Schritte in neue Erlebens- und Verhaltensweisen.
Es gibt für mich drei Stufen zu einer „anderen“ Traumabewältigung:
  1. Erkennen und Bestaunen der bisherigen Lösungen. Sie haben dein Überleben gesichert!
  2. Mitgefühl für diese bisherigen Lösungen. Sie haben dir Sicherheit gegeben!
  3. Erkenne in deinen Verhaltensprogrammen genau diese alten höchst wirkungsvollen Lösungen. Sie haben dich gerettet.
  4. Führe mit dir ein Selbstgespräch wie zB: „Ah, das muss was Altes sein. Das war sinnvoll! Ich verstehe. Das fühlt sich genauso an, wie damals. Aber das wird dir nie nie mehr passieren. Heute bist du sicher. Du bist am Leben. Du hast überlebt! Wow!“
  5. Neue Schritte wagen: Von diesem Verständnis heraus, dass sich ein Teil in uns in einer „Sterbe-Stelle“ aus der Kindheit erinnert, dass sich dieser Teil ganz real zw. Leben und Tod befand und dem Wissen, dass wir heute in Sicherheit sind, können wir nun höchst geduldig und ganz vorsichtig kleine Schritte auf neues Terrain wagen.
Am Beispiel mit dem Alkohol könnte das bedeuten, dass die Frau ihrem Partner ankündigt, dass sie etwas beschäftigt, sie sich aber nicht traut, es anzusprechen.
Erst wenn ihr Partner darauf einfühlsam reagiert, könnte sie den nächsten Schritt wagen und sagen, dass es etwas mit ihrem Vater zu tun hat. Usw.
Möglicherweise fühlt sich folgendes Bild noch stimmiger an als das obige Beispiel:
„Du stehst an einem Abgrund und gerätst in Panik. Du hast Angst abzustürzen. Du hast Todesangst, hinter dir jemand steht, der Druck macht. Er sagt: „Geh doch. Stell dich nicht so an. Ist doch kein Problem.“
Du aber spürst die Gefahr und bleibst stehen.
Plötzlich steht eine Frau neben dir. Ihre Hand hält dich sanft. Sie würdigt, dass du vor diesem Abgrund Angst hast. Sie sagt: „Wie gut, dass du keinen Schritt nach vorne gemacht hast. Es fühlt such genauso lebensbedrohlich an wie damals als Kind.
Aber schau mal genau hin. Da ist eine Glasbrücke, die über den Abgrund führt.
Sie hält dich. Es ist nicht der selbe Abgrund, wie damals. Damals war es gut, nicht zu gehen, heute darfst du gehen. Aber es fühlt sich genauso an, als gäbe es da keine Brücke, nicht wahr?“
Dann lädt dich diese Frau ein, dich mit deinem linken Fuss – mit dem grossen Zeh- einen Millimeter vorwärts zu tasten und zu spüren, dass da wirklich Glasbrücke ist, die dich hält.
Schließlich wagst du einen Schritt. Immer in dem Bewusstsein, dass es dem ursprünglichen Erleben „verdammt“ ähnlich sieht und du deshalb höchsten Respekt und höchstes Mitgefühl mit dir hast.
Danke:
Zu diesem Beitrag inspiriert haben mich die Gruppe der erwachsenen Adoptierten, Christina Schaffer von gedankenwelt.de, das Buch von Sandy Graf, Podcasts von Verena König, Sonja Kübber und mein eigenes inneres Kind, das nun mehr und mehr erkennt, wie toll sie ihre Traumen bisher gelöst hat und dass es nun mit meiner Hilfe sachte neue Wege gehen darf.
Zum Abschluss füge ich ein Gedicht ein, das mir Sandy Graf geschickt hat, genau während ich an diesem Text schrieb:
Rainer Maria Rilke „über die Geduld“
Man muß den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
und beschleunigt werden kann;
alles ist austragen –
und dann gebären…
Reifen wie der Baum, der seine
Säfte nicht drängt und getrost
in den Stürmen des Frühlings
steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den
Geduldigen, die da sind,
als ob die Ewigkeit vor ihnen
läge,
so sorglos still und weit…
Man muss Geduld haben,
mit dem Ungelösten im
Herzen,
und versuchen, die Fragen
selber lieb zu haben, wie
verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer
sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum,
alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages in
die Antwort hinein.
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