Eric H. Erikson und seine Frau Joan Erikson beschreiben in ihrem Stufenmodell die psychosoziale Entwicklung des Menschen. Die Entwicklung eines Menschen geschieht im Spannungsfeld zwischen dessen individuellen Bedürfnissen und den sich verändernden sozialen Anforderungen. Die Interaktion mit der Umwelt spielt beim Ehepaar Erikson eine wesentliche Rolle. Die Eriksons geben der Ich- und Identitätsentwicklung im gesamten Lebenslauf mehr Bedeutung als der Triebtheorie und dem Unbewussten Sigmund Freuds.
Das sind die acht Stadien der psychosozialen Entwicklung:
Stadium 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)
Stadium 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (1. bis 3. Lebensjahr)
Stadium 3: Initiative vs. Schuldgefühl (4. bis 5. Lebensjahr)
Stadium 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
Stadium 5: Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion (Jugendalter)
Stadium 6: Intimität und Solidarität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter)
Stadium 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)
Stadium 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)
Generativität
Generativität ist eine der acht Stufen, nämlich die siebte. Ihr wird die Stagnation und Selbstabsorption gegenübergestellt.
Unter Generativität versteht man das Bedürfnis, etwas für die nachfolgende Generation tun zu wollen. Sie umschließt die Erziehung von Kindern, das Belehren, das Weitergeben von Werten, Ansichten, Erfahrungen und Wissen.
Generativität meint auch, Sinnvolles für die Zukunft unserer Kinder zu tun. Sie zu unterstützen, dass sie in einer lebenswerten Zukunft sein können.
Die fridays for future-Bewegung bedeutet aus meiner Sicht, dass es an an gesunder Generativität mangelt. Wenn Eltern und Großeltern versagen, müssen die Kinder auf die Straße.
Würden wir uns für die Zukunft der Kinder einsetzen, müssten diese es nicht selbst tun.
Wo ist die Generativität der Eltern der jetzt Pubertierenden?
Ist die Welt verdreht? Sorgen die Kinder für uns und für sich selbst, anstatt dass wir für sie sorgen?
Diesem Thema dürfen sich die Soziologen weiter annehmen, ich möchte psychologisch bleiben und bewusst machen, wie wichtig generatives Verhalten für alle Menschen ist, auch und vor allem für jene, die kinderlos geblieben sind.
Sonja Schiff, selbst kinderfrei – schreibt in ihrem empfehlenswerten Buch „Vom Älterwerden und generativen Verhalten kinderloser Frauen“.
Generativität – auch und vor allem für kinderlose Frauen und Männer
Menschen, die kinderfrei geblieben sind, könnten Gefahr laufen, ihr Bedürfnis nach Generativität zu übersehen oder zu vernachlässigen. Vielleicht gibt es Nichten und Neffen in ihrer Familie, für die sie mitsorgen, vielleicht ein Nachbarkind, das gern zu Besuch kommt. Was aber, wenn dies alles nicht der Fall ist?
Auch Eltern, deren Kinder und Enkel weit wegwohnen und selten zu Besuch kommen oder bei denen der Kontakt zur Gänze abgebrochen ist, leiden unbewusst oder bewusst an fehlender Generativität. Es ist nicht nur die fehlende Nähe zu Nachfahren, nein, es ist auch das fehlende geistige und emotionale Erbe, das Menschen im mittleren und reiferen Alter stagnieren und sich selbst absorbieren lässt. Sie kreisen um sich selbst, isolieren sich, werden verbittert, sozial unverträglich und traurig. Etwas Wichtiges in ihrem Leben fehlt.
Auch, wenn ältere Menschen viele Kontakte zu anderen älteren Menschen haben, also unter sich sind, Ausflüge machen, Spaß haben, Reisen und am Stammtisch Kartenspielen, auch dann fehlt etwas.
Was werden Sie an welche junge Menschen vererben?
Im Krankenhaus Oberndorf erlebe ich solche – oft bereits hochbetagte -Menschen.
Sie sind traurig, weil sich niemand ihre Geschichten und Lebensweisheiten anhört, entweder weil diese niemand hören will, oder weil es niemanden gibt.
Ich frage oft: “Was geben Sie an andere weiter? Was haben Sie wem „vererbt“? Was wird von Ihnen bei den Jungen in Erinnerung bleiben?“
Ist vielleicht deshalb das materielle Erbe so hoch bewertet, weil das geistige und emotionale Erbe vernachlässigt wird?
Gibt es vielleicht deshalb so viele Erbstreitigkeiten, weil Hinterbliebene gern „etwas anderes geerbt“ hätten?
Die Technik als Konkurrenz
Wozu brauchen Junge noch das Wissen der Alten? Es lässt sich doch einfach alles googeln. Ist der „virtuelle Mutterbusen“ der Ersatz für die weise Mutter geworden?
Frag Mr. Google! Google is your friend! Diese Aussagen zeigen, dass google Wissen von Menschen ersetzen kann.
Weisheit kann google nicht ersetzen, außer man googelt auf youtube nach weisen Vorträgen und Webinaren.
Auch diese lässt sich also auslagern…außerhalb der Familie – outsourcen familiärer Ressourcen…
Erinnern wir uns….
Was kann also ein Gespräch mit älteren Menschen, was google nicht kann?
Sinnliche Wahrnehmungen fördern, die nicht optisch und akustisch allein sind.
Google riecht nicht, Oma schon!
Google schmeckt nicht, Papas Essen schon!
Google berührt deine Haut nicht, Menschen schon!
Nur mit vielen Sinneskanälen versehen, erinnern wir uns an unser Erbe.
Erinnerst du dich, wie es gerochen hat, als deine Eltern Kekse buken?
Wenn dabei auch noch Gespräche stattfinden, dann hat diese Generativität einen Gehalt, einen erfüllenden und lebendigen und bleibenden Wert!
Generativität ist ein menschliches Grundbedürfnis – erfüllen wir es uns!
Sollten Sie jetzt denken, dass Sie doch froh sind, Ihre Ruhe zu haben und sich Gott sei Dank nicht mit Kinder und Enkel abgeben zu müssen, so bedenken Sie bitte, dass Generativität ein menschliches Grundbedürfnis ist, das zu einer gesunden Entwicklung gehört. Generativität erhält Ihre Seele jung und lebendig, Generativität tröstet, dass etwas von Ihnen bleiben wird. Generativität ermöglicht Verbundenheit.
Beispiele für generatives Verhalten:
- Geben Sie Ihr Lieblingsrezept an die junge Nachbarin weiter.
- Hüten Sie Kinder von guten Bekannten/Freunden.
- Sorgen Sie für Ihre Kinder und Enkelkinder.
- Führen Sie tiergehende Gespräche mit Nichten und Neffen.
- Erzählen Sie jungen Menschen humorvolle Anekdoten aus Ihrem Leben.
- Erzählen Sie jungen Menschen Ihre Geheimnisse aus Ihrer Jugend, ihre Jugendsünden, Ihre Abenteuer, nicht immer nur wie viele Schmerzen Sie haben und welche Schicksalsschläge Sie erlebt haben. Dann hört man Ihnen auch gern zu.
- Moralisieren Sie nicht, das will keiner hören.
- Belehren und Beraten Sie nur, wenn Sie gefragt werden.
- Geben Sie Ihre Fertigkeiten und Ihr Wissen an interessierte Junge in einem Verein weiter.
- Nehmen Sie an Gruppen teil, die aus mehreren Generationen bestehen.
- Wohnen Sie in Generationen-WG´s.
- Mischen Sie sich ab und an unter junge Menschen und zeigen Sie Interesse an deren Leben.
Zum Schluss noch einmal die hoffentlich generativitätsfördernde Frage:
Wovon möchten Sie, dass junge Menschen von Ihnen erzählen, wenn Sie einst gestorben sind?
Viel Freude beim generativ sein!